Die Torfstecherin

Nördlich der Stadt, mitten im alten Torfmoor, hinter dem die Kartoffelsteppe sich dehnt bis ans Meer, eine halbe Stunde Fuß­marsch vom nächsten Dorf ent­fernt, steht Bothos kleines Wirts­haus, dort kehren regel­mä­ßig die Bauern ein, wenige; an sonnigen Wochenenden finden Ausflügler den Weg hierher, bisweilen; von denen kommt freilich selten jemand ein zweites Mal, denn kein Erdbeereis lockt Kinder zum Schlecken, Frauen fürchten kühle Moorbauern­blicke, Männer hassen braune Schlammspritzer auf gewienertem Wagenblech, und außerdem, das vor allem: Bothos Bier schmeckt so säuerlich und macht einen drückend schweren Kopf.

„Für die süßen Schnecken aus der Stadt hab ich Malztrunk da“, meckert Botho, und wenn Gäste nach dem Donnerbalken fragen, zeigt er zur Hintertür: Draußen, wo Hansi, der Esel, weidet, steht ein zugiges Häuslein, das im Herbst oder Frühjahr, sobald Botho die neue Grube ausgehoben hat, etwas weitergerückt wird.

Das Moorgrundstück, nebst mancher trockengelegter Äcker, die verpachtet worden sind, weil die Gastwirtschaft nichts einbringt, hat Botho von seinem Onkel geerbt, wenige Jahre nach dem Krieg, und seine Frau zankt seit langem dafür, den Schankbetrieb zu schließen, um die alten Tage in einer Stadtwohnung zu verleben, doch Botho will nicht mehr fortgehn vor hier, wo die Sumpfblumen knospen, er hofft noch mit sechzig auf den Bau einer Autobahn mitten durchs Moor und einer großen Raststätte auf seinem Grund, aber der Landesherr lässt natürlich das Feuchtgebiet weiträumig umschlenkern.

Weil das alte Wirtshaus nicht mit Stromkraft aus dem Netz versorgt wird, schachtet Botho einen mannstiefen Schöpfteich aus, den schwarze Torfnässe schnell füllt, und schichtet den Aushub, ein paar Schritte versetzt, zum Ringwall auf, damit neben dem Weiher noch ein Stau­becken entsteht; ein Windrad pumpt Wasser hinein, das abends durch Schaufelräder zurückfließt und über Keilriemen den Stromerzeuger antreibt, um die Schankstube schummerig zu beleuchten; Botho will auch Karpfen halten, doch dieser Versuch schlägt fehl, trotz Hilfe des Tierarztes; das Moorwasser lässt alle Fische nach kurzer Zeit auftreiben, dann kehren sie den Bauch empor und werden vom Reiher verschmäht.

Die Einkünfte der Gastwirtschaft fließen kärglicher mit den Jahren, immer seltener heben Braumeister ein frisches Fass vom Wagen, schließlich bleiben die Bauern aus, denn dem Botho wird das Bier, wie sie sagen, desto saurer, je länger der Anstich zurückliege.

Doch wandelt Botho wochentags im Sonnenschein, trifft er bisweilen die blonde Torfstecherin, ein Mädchen, dessen Eltern seit Kriegszeit verschollen gelten, und eines Morgens klagt Botho dem Geistlichen, ihm habe die Jungfrau schöne Augen gemacht; er sei, trotz vorgerückten Alters, erlegen solcher Verführungskunst; nur verlange sie jetzt von ihm, sich von seiner treuen, leider schwerleibigen, kinderlos granteligen Gattin zu trennen.

Als die Torfstecherin wenig später, mit vorgewölbtem Bauche, Bothos Wirtshaus betritt und ihre Rechte einfordert, donnert er, dass keinesfalls Unterhalt geleistet werde für ein Kind ungewisser Herkunft; er zerrt sie mit dem einzigen Zecher, dem Tierarzt, gemeinsam zum Heuwagen, zurrt sie, Schenkel hochgestreckt, am Gestänge fest, sieht blondes Kullerlockenhaar und roten Tropfenbach über die Halme fließen, hört Geschrei, das dem Heilkundigen gilt: „Mach deine Arbeit, alter Kurpfuscher!“, und böseste Verfluchung seiner selbst, und klagt seinem Kirchenherrn, da die Torfstecherin so schnell verblutet ist, kaum dass man ihr die Leibesfrucht entrissen hat, die Unglückliche habe sich im Sumpf ersäuft, und zu finden gewesen sei nur dieses Hemdchen hier.

Botho bekommt ein paar Wochen später Schmerzen in Fingern und Zehen, sodass ihm jederlei Gartenarbeit schwerfällt, kann schon wenige Tage darauf Hände und Füße, Hüften und Beine nicht mehr bewegen, liegt bald stocksteif im Bett; seine arme Frau bereitet warme Wickel und Kräutertee, der Tierarzt verschreibt ihm jede Woche eine andre bittre Arznei, doch selbst Mittel, die lahme Gäule auf die Hufe bringen, versagen, und an dem Tag, als Botho den Geistlichen rufen lässt, weil sein Schicksal ihn jetzt am Halse würgt, ist nun der Kurpfuscher mit seinem Latein am Ende; endlich bringt man Botho ins Krankenhaus, wo sich binnen einer Woche die Genesung einstellt.

Als Botho, kaum heimgekehrt, sein Tagewerk wieder aufnimmt und Eselmist zu Felde bringen will, findet er unterm Küchenabfall, in verschimmeltem Kräutersud, ein Häuflein glänzend silbriger Fliegenkugeln und gibt sogleich, erheitert, ein Gesundungsfest, bei dem der Tierarzt als Gast erscheint, um, hart auf die Tasten schlagend, zum Tanz aufzuspielen; die Alte jedoch besäuft sich mit Schnaps wie noch nie zuvor und ist seit jener Nacht verschwunden, denn wie Botho dem Kirchenherrn klagt, habe seine Gattin, Erleichterung suchend, beim Niederknien auf dem Weg zum Häuschen Hansis Aufmerksamkeit erregt, bis er herbeigesprungen sei und sie fortgeschoben habe ins Moor, woraufhin der Geistliche händeringend spricht: „So tief ist der Sumpf, und er redet nicht.“

Bevor ein Jahr vergangen ist, zieht Unwetter auf; es durchtobt die Landschaft drei Tage und Nächte lang, wirft Hütten und Bäume um, lässt alle Wege unbefahrbar verschlammen; in der ersten Nacht stürzt das Mühlrad zusammen, das Botho am Stauteich errichtet hat, in der zweiten schlägt ein Blitz ins Gasthaus, mit Krachen, wo­rauf der Dachstuhl entflammt; glücklich treibt starker Wind schwere Wolken heran und löscht das Feuer mit platzendem Regenguss, bevor das Bauwerk niederbrennt, aber in der dritten Nacht kehrt aus den Sümpfen die Alte heim; da verzieht sich der Sturm.

Das Wetter ist nun milder, Botho gesundet, seine Frau wieder zurück und ihr Haus zwar verwüstet, wenn auch längst nicht eingestürzt, und weil das Grund genug zum Feiern ist, hämmert erneut ein besoffner Tierarzt auf die Tasten.

Die Alte fegt in der Morgendämmerung dumpf riechendes Laub hinaus, das durch zerbrochene Fenster oder die klaffende Dach­wunde in den Schankraum geweht ist, gießt auch dem Kurpfuscher, der vor der Tür in Erbrochenem liegt, einen Eimer Wischwasser über den Schädel, geht hinaus in die Wiesen und kommt mit einem großen Bund Nesselhanf, den sie frisch gerupft hat, in ihren rot ent­zündeten Armen zurück, heizt unverzüglich das Feuer an, wirft alles Grünzeug in den Kessel, kocht abscheuliche Arznei daraus, der sie Bilsen beifügt, um die Schärfe zu steigern, und gießt stündlich eine Kelle Gebräu ins zahnlose Maul des Alten, der, den müden Rücken an die Wand gelehnt, auf dem letzten Bierfass hockt; sein Gesicht ist gelblich verquollen, alle Glieder sind vollkommen gelähmt, niemals kann er diesen Platz verlassen, die Lendendrüse wuchert, Nierensteine zwicken, und sein Stöhnen trägt kühler Wind hinaus in das Moor.

Der Arzt erwacht abends für einige Stunden aus der Besin­nungslosigkeit, um ihnen zum Tanz aufzuspielen; die fette Alte stellt ein ums andre Mal seinen Humpen unter den Zapfhahn; der Pfuscher leert mittlerweile einen ganzen Kessel in jeder Nacht, übergibt sich in der Morgendämmerung, steht jedoch niemals auf, bevor er sein Stück beendet hat, will dann hinausgehn und kündigt an, sich ins Moor zu stürzen, doch schon an der Schwelle schlägt er lang hin.

Drüben am Teich sitzt die Torfstecherin und kurbelt, weil das Windrad zerstört ist, am Pumpengestänge, damit Wasser fließt und kein Glühlicht verlöscht im Haus, wo nächtens gefeiert wird und ein Stümper auf die verstimmten Saiten drischt, bis der Bierpanscher laut stöhnt wie einst auf der Sonnenwiese; immer weiter kurbelt die Stecherin, schon rinnt Blut aus den aufgerissenen Schwielen ihrer verkrümmten Hand, der Rücken ist bucklig, das Haar verfilzt, jedoch immer noch blond, stumpfe Miene, verwittertes Gesicht; aber wenn, von Licht und Klang herbeigelockt, ein Wanderer kommt, dann schenkt sie ihm ein Lächeln und manch lodernden Augenblick.

 

G. D. Brettschneider (1995)