G. D. Brettschneider
Gilgamesch
und sein
Freund
Schauspiel
 

 

 
G. D. Brettschneider
Gilgamesch
und sein
Freund
Schauspiel
 

Gilgamesch und sein Freund

 

 

 

G. D. Brettschneider: Gilgamesch und sein Freund. Schauspiel (2001)
nach der Heldendichtung von Sin Leqe Unnini (um 1200 vor Christus)
Abbildung nach einem Flachrelief aus Korsabad (um 750 vor Christus)
Alle Rechte vorbehalten

Gesetzt mit Gerolf Markup Shredder
Schriftart: ImpactImpact/Times

www.GDBrettschneider.de/Gilgamesch/Gilgamesch.htm
www.GDBrettschneider.de/Gilgamesch/Gilgamesch.pdf

 

Gilgamesch und sein Freund

 

 Rollen 

 

Gilgamesch, der junge König von Uruk
Ischtar, seine Schwester
Rimatninßun, seine Mutter
Anu, sein Vater
Atramchasis, sein Großvater
Birchurturre und ein weiterer Freiwilliger
Enkidu, Mann aus der Steppe
Schumbaba, Waldwächter
Siduri, Wirtin
Urschanabi, Schiffer
Gesandter aus Kisch
ein Hirte
ein Jäger und sein Vater
zwei Bedienstete
zwei Peitschenmänner
drei Waffenschmiede
vier Totengräber

 

 Erster Akt 
 1 

Ein künstlicher Baum „wächst“ vorn auf der ansonsten leeren Bühne, die verdeckte Abgänge zur linken wie zur rechten Seite hat oder auf der hinten eine breite dunkle Stellwand steht, um die man herumlaufen kann. Nach einer Weile tritt Enkidu aus dem linken Hintergrund, ein kräftiger Mann mit verzotteltem Haar und fransigem Bart, bekleidet nur mit übergeworfenem Schling­pflanzen­geflecht, der diesen Baum prüfend betrachtet und nachdenklich umschreitet: Drei Stelzen sind aufgestellt, mehr als doppelt so hoch wie er selbst, oben geweitet und mit einem Netz voller Zweige behängt, in der Mitte zusammen­geschnürt, unten auseinander­gespreizt und in die Erde gestemmt. Auf dem Boden zwischen den Stelzen steht eine runde flache Tonschale mit bunten Früchten.

Der Mann tritt nach plötzlichem Anlauf und mit Grunzen eine dieser Stelzen um. Der Baum sackt schlagartig zusammen, es kracht überraschend laut, Saft spritzt umher und Scherben springen, denn in der Krone ist ein schwerer Stein verborgen gewesen. Die Stelzen schlagen das Netz weit auseinander und werfen es über den Mann, der sich nicht schnell genug seitwärts gerettet hat. Er befreit sich mit raubtier­haftem Wutgeheul, zerreißt das Fangnetz und zerbricht die Fallstelzen, schleudert alle Trümmer von der Bühne hinunter und trottet links zurück in den Hintergrund.

Ein Jäger kommt von rechts, den Wurfspieß geschultert, und schaut beim Aufundab­gehen suchend umher. Als er sich, vorn in der Mitte angelangt, umwendet, taucht links im Hintergrund erneut der zottelige Mann auf. Ihre Blicke begegnen sich. Der Jäger läuft nach rechts weg, der Mann wendet sich langsam ab und verschwindet.

 2 

Der Jäger eilt von links über die Bühne: „Vater! Ich hab Enkidu wieder gesehn!“

Sein Vater tritt ihm ruhig von rechts entgegen: „Du kommst mit leeren Händen zurück?“

Jäger: „Hier an der Tränke bin ich auf ihn gestoßen, Vater! Er hat zwischen dem Wild gesessen und meine Fallen zerstört. Alle Gruben sind wieder aufgefüllt und die Fangnetze zerrissen! Er frisst Gras wie die Tiere und saugt ihre Milch. Streift über die Steppe. Er lauert im Gebüsch!“

Vater: „Darum bist du fortgelaufen?“

Jäger: „Er ist riesenstark, Vater! Ich hab Angst vor ihm.“

Vater: „Geh in die Stadt, mein Sohn, und lass dir eine Frau geben, von Gilgamesch.“

Jäger: „Eine... Frau?“

Vater: „Für den starken Enkidu, damit er seinem Wild untreu wird.“

Der Jäger und sein Vater treten zusammen rechts ab.

 3 

Die Eltern des Gilgamesch, prachtvoll gewandet, mit Gürtel, Geschmeide und Königsmütze angetan, schreiten Arm in Arm von rechts her bis in die Bühnenmitte.

Anu, sein Vater: „Können wir nicht stolz sein auf unsern Sohn? Schau nur, jetzt hat er sich diesen Denkstein meißeln lassen! Was für ein Verslein steht dort geschrieben?“ Er beugt sich vor und kneift die Augen zusammen: „Gilgamesch, Erbauer der Stadtmauer, die zu umrunden zwei Stunden dauert.“ Er richtet sich auf: „Als wär es nicht sein Stadtrat gewesen, der ihm den Bau empfohlen hat. Als hätt er selber mehr als den Grundstein gelegt. Als wären seine Männer beim Bau nicht wie Fliegen verreckt!“

Rimatninßun, seine Mutter: „Aber es ist wunderschön, hier oben auf der Mauer entlangzugehn! Die Friese strahlen wie bronzene Schalen, das ist noch keinem so gelungen. Und sieh nur das Ziegelwerk, alles aus Backstein! Die Häuser, die Gärten, der Markt und der Hafen am Euphrat, alle sind umschlossen und geschützt! Ja, sogar für die Hirten mit ihrem Vieh wäre noch Platz.“

Anu: „Er hätte wenigstens die Fickburg draußen lassen können.“

Rimatninßun, empört: „Wie redest du über das Haus deiner Tochter! Das Volk betet sie an! Gilgamesch lässt die Mädchen auch gar nicht mehr zu ihren Geliebten hin. Die Männer arbeiten jetzt völlig ungestört nach seinem Trommelschlag.“

Gilgamesch, ein kräftiger Bursche, stürmt von rechts herbei: „Mutter!“ Seine Eltern wenden sich um. „Mutter, ich habe geträumt!“ Sein Vater verlässt links die Bühne. „Mutter, ich bin im Traum ganz voller Kraft inmitten meiner Männer umhergegangen, als eine Axt vom Himmel auf mich niederfiel! Ich konnte sie nicht anheben, sie war zu schwer. Wie über einer Frau hab ich dabei gestöhnt und sie liebgewonnen! Meine Männer kamen herbei und küssten sie, und wir trugen sie gemeinsam hin zu dir!“

Rimatninßun, nach einigem Schweigen: „Diese Axt ist ein Mann, Gilgamesch! Er wird sich zu dir gesellen, seinem Freund aus der Not helfen. Ich stell euch gleich, wenn du ihn herbringst, mein Lieber! Auch wenn er aus der Steppe kommt. Du wirst ihn umarmen und sicher Freude an ihm haben! Der kräftigste Kerl im Land wird er wohl sein, stramm wie Backstein.“ Sie tritt rechts ab.

 4 

Der Jäger, zögerlich von links herantretend, verbeugt sich in achtungsvollem Abstand: „Gilgamesch, mein hoher Herr! Ich bin daheim an der Tränke auf einen riesenstarken Mann gestoßen, bärtig und voller Zotteln! Er treibt sich beim Wild herum, frisst Gras und saugt Milch wie Tier, hat Fangnetze zerrissen und Fallgruben aufgefüllt. Er streift über die Steppe hin und lauert im Gebüsch!“

Gilgamesch nimmt den Jäger am Arm: „Fang ihn ein, Jäger, bring ihn her! Geh zu meiner Schwester und lass dir ein Mädchen geben aus der... aus ihrem Liebestempel da. Sie soll ihre Brüste zeigen und ihr Kleid abwerfen und ihren Schoß öffnen und sich bloß nicht fürchten vor seinem Atemstoß!“ Gilgamesch wischt sich Schweiß aus der Stirn und geht nach rechts weg, der Jäger wendet sich um.

Ischtar, Schwester des Gilgamesch, das Gewand aufreizend geschürzt, tänzelt von der linken Seite herbei: „Ein Mädchen suchst du, eine schöne junge Dirn? Du wirst keine bessere finden als Ischtar!“ Sie fasst den Jäger sachte bei der Hand, und beide treten gemeinsam links ab.

Rimatninßun eilt von rechts über die Bühne: „Anu! Nun warte doch!“

Anu kommt ihr von links ein paar Schritt entgegen.

Rimatninßun: „Gilgamesch hat wieder vom Krieg geträumt, weißt du.“

Anu: „Bemerkenswert, sonst träumt er nur von den Kriegern.“ Beide links ab.

 5 

Der Jäger, die Dirne an der Hand, kommt von rechts und weist zur gegenüberliegenden Seite: „Dort ist die Tränke!“ Er tritt rechts weg.

Ischtar legt ihr Kleid ab und breitet es auf dem Boden aus, um sich darauf niederzulassen.

Enkidu nähert sich ihr langsam von der linken Seite. Er wirft sein Schlingpflanzenbündel fort, berührt und besteigt sie, schiebt Ischtar mehrfach im Kreis herum, grunzt: „Ah! Oh!“

Ischtar: „Den Rest bring ich dir später bei! Na, fühlst du dich wohl bei mir? Stöhnst du beim Liebesspiel, versagen deine Knie? Wie lange willst du hier noch zwischen den Tieren herumlaufen, Enkidu? Komm lieber mit in die Stadt, wo wir Mädchen wohnen, komm ins Heim der Schwes­ter von Gilgamesch, der seine Kraft an den Männern erprobt!“

Enkidu hält inne, schaut auf: „Gilgamesch!“

Ischtar: „In unsrer Stadt feiern wir jeden Tag ein Fest. Meine Dirnen singen, die Männer zeigen ihre prächtigen Riemen, die Decken für die Nacht werden ausgebreitet, und Getrommel erdröhnt! Und am schönsten und stärksten trommelt Gilgamesch.“

Enkidu: „Uh!“

Ischtar entwindet sich ihm, reißt ihr Kleid entzwei und reicht Enkidu eine Hälfte: „Wickel dir das um die Hüfte.“ Sie stehn gemeinsam auf und treten Hand in Hand rechts ab.

 6 

Von rechts trägt ein Hirte Brotkörbe und Weinkrüge herbei. Ischtar, die Dirne, Enkidu an der Hand, betritt die Bühne von links. Sie tragen jetzt ordentliche Gewänder, Enkidus Haarschopf ist gebändigt.

Ischtar: „Trink dir einen Rausch an, Enkidu, das ist so Brauch bei uns! Und nimm das Brot vom Hirten, iss, denn das gehört zum Leben.“

Enkidu greift zum Brot, zum Krug, zur Dirne: „Ah! Oh!“

Ischtar: „Nun wirst du Mensch, Enkidu, bist gewaschen und gesalbt, hast deine Kehle gespült!“

Hirte: „Heut Abend führt man meine Tochter heim, sie wird geheiratet. Helft mir, die Festspeisen aufzutragen! Ihr wisst ja, die erste Nacht...“

Ischtar: „... gehört Gilgamesch. Und morgen erst beschläft sie der Ehemann.“

Enkidu schüttelt sich und stampft mit den Füßen auf: „Uh!“

Ischtar: „Und Gilgamesch kommt eben erst aus dem Schwes­tern­heim, wo er den Tag bei den Mädels verbracht hat.“ Sie entfernt sich nach links.

Hirte: „Gilgamesch, mein hoher Herr! Sei willkommen!“ Er tritt rechts ab.

 

 Zweiter Akt 
 1 

Als Gilgamesch von rechts her kommt, versperrt ihm Enkidu den Weg. Die beiden umrunden sich grimmigen Blickes, packen sich dann an der Schulter, gehn in die Knie, ringen miteinander, stoßen den Korb um, zertreten Krüge, wälzen sich auf dem Boden, stöhnen laut, mal liegt der eine, dann der andere oben, bis beide vor Erschöpfung innehalten und schwer atmen.

Enkidu lacht, setzt sich, steht auf, greift nach einem heilen Krug, trinkt und reicht ihn Gilgamesch: „Ah!“

Gilgamesch, nach mehreren Schlücken leicht lallend: „Im Walde reckt sich der Zedernbaum, Schumbaba, den wollen wir fällen!“ Er fasst Enkidu an der Hüfte und küsst ihn.

Enkidu: „Oh...“

Gilgamesch, mit erhobenem Krug: „Enkidu, ich stelle dich meiner Mutter vor, dann kannst du dein Haupt über die Männer dieser Stadt erheben!“ Er richtet sich auf und rückt sein Gewand zurecht. Mit Enkidu in seinem Arm schwankt er nach rechts, woher ihm Rimatninßun schon entgegenkommt: „Mutter, das hier ist Enkidu, der stärks­te Mann im Zweistromland! Er hat in der Steppe beim Getier geschlafen. Sein Haar ist noch nie geschoren worden, keiner hat ihn lesen gelehrt, seinen Vater und seine Mutter kennt er nicht!“

Enkidu wischt sich übers Auge: „Uh!“

Rimatninßun, die Mutter des Gilgamesch, nimmt ihn in die Arme: „Bleibe bei mir, mein Sohn!“ Sie hängt ihm ein Kettchen um.

Gilgamesch: „Jetzt will ich Hand anlegen, die Zeder wird abgehaun, mit Enkidu zusammen!“ Er geht mit ihm nach rechts fort.

 2 

Rimatninßun, Mutter des Gilgamesch, schreitet würdevoll über die Bühne.

Anu, sein Vater, kommt ihr von links entgegen: „Meine liebe Rimatninßun! Was für einen Denkstein lässt sich unser Sohn als Nächstes meißeln?“

Rimatninßun: „Gilgamesch wird in den Kampf gegen den Riesen Schumbaba ziehn, der die Zedern im Libanon bewacht!“

Anu: „Na, das kann ich mir lebhaft vorstellen. Er hat ein sonniges Gemüt für solche Landburschen entwickelt.“

Rimatninßun: „Er wird sich einen Namen machen, der die Zeit überdauert, mein lieber Anu!“

Anu: „Glaubst du das wirklich? Dann schick ihn los zu den Waffenschmieden.“

Rimatninßun tritt links, Anu rechts ab.

 3 

Von rechts kommen, mit Lederschürzen, drei Waffenschmiede; zwei bleiben im Hintergrund, sie heben und senken die Arme zu Hammerschlägen.

Gilgamesch nähert sich mit Enkidu von links: „Äxte haben wir schon, Meister, wir brauchen jetzt noch Beil und Schwert! Mach die Klingen recht breit und schwer, die Knäufe rund, spar nicht mit Gold, und rüste dann auch sechzig meiner Männer aus!“

Schiedemeister: „Weil du jung bist, Gilgamesch, trägt dich dein Herz davon! Du weißt nicht, was du tun sollst. Schumbaba ist ein Ungeheuer! Auf hundertzwanzig Wegstunden soll der Wald unberührt stehn, wo sein schreckliches Gebrüll erdröhnt, aber du legst es drauf an, seinen furchtbaren Waffen zu begegnen!“

Enkidu: „Oh, Gilgamesch, den Weg dorthin kann man nicht gehn!“

Die Waffenschmiede halten inne.

Schmiedemeister: „Schumbaba hütet die Zedern. Wer in seinen Wald hineindringt, wird von Lähmung erfasst, vor Entsetzen, und stirbt!“

Gilgamesch: „Wo bleibt jetzt nur euer Heldenmut? Wer steigt zum Himmel auf? Ich werde voranziehn. Enkidu wird rufen: Sei nicht bang!“

Die Waffenschmiede hämmern weiter.

Gilgamesch: „Die Tage des Menschen sind ohnehin gezählt, doch von Gilgamesch wird man sagen: Er hat gegen den großen Schumbaba zu kämpfen gewagt!“ Er tritt, Enkidu im Gefolge, links ab, die Waffenschmiede rechts.

 4 

Rimatninßun, die Mutter des Gilgamesch, schreitet von der linken Seite herbei, entzündet Weihrauch, versprengt Wasser aus einer Tonschale auf den Staub und erhebt ihre Arme: „Warum, Sonne, hat mein Sohn ein Herz ohne Ruh? Nun wird er zu Schumbaba ziehn, auf einem fernen Pfad, und einen Kampf bestehn, den er noch gar nicht kennt! Er will das Böse vertilgen, den Riesen bezwingen, der über den weiten Zedernwald wacht! Schau gut auf seinen Weg am Tag, lass ihm Sterne und Mond leuchten bei Nacht, bis er heimkehrt!“

Von rechts tritt Gilgamesch mit Enkidu heran.

Von links kommen Waffenschmiede, Dirnen, Straßenvolk: „Elluri, Gilgamesch! Elluri, Enkidu! Wir bringen euch Schwerter und Beil, Köcher und Schild, Elluri!“

Gilgamesch und Enkidu legen die Waffen an.

Schmiedemeister: „Gib auf unsern König Acht, hörst du, Enkidu? Wilde Tiere haben dir Schleichwege gezeigt, du kennst den Waldesrand und Schumbabas Geschrei. Träume lebhaft heute Nacht, ab morgen sperr deine Augen auf! Grab abends einen Brunnen, damit ihr immer frisches Wasser im Schlauch habt! Führe Gilgamesch zu den Wäldern Libanons, wo die Zeder wächst, bring ihn unversehrt zurück, wie wir ihn dir übergeben! Mögen euch die Männer folgen, die sich gemeldet haben.“

Enkidu: „Schau nur auf mich, Gilgamesch, und fürchte dich nicht.“ Beide schreiten nach links fort.

Alle andern bis auf Anu, den Vater des Gilgamesch, der sich zurückhält, rufen: „Elluri, elluri!“. Sie verziehn sich dann in entgegengesetzten Richtungen.

 5 

Gilgamesch und Enkidu, mit Schild und Schwert bewaffnet, kommen von rechts.

Gilgamesch: „Die Sonne versinkt allmählich, lass uns rasten.“ Er legt sich, in eine Decke gehüllt, nieder.

Enkidu stellt die Schilde mit Hilfe der Schwerter senkrecht hin und spannt ein Schutzdach auf.

Gilgamesch fährt hoch: „Ein wirrer Traum! Ich hab einen Wildstier aus der Steppe gesehn und verging vor Angst! Bei seinem Brüllen und Schnauben erhob sich der Staub vom Boden wie Dampf nach dem Regen. Doch von seinem Rücken stieg ein fremder Krieger, der griff meinen Arm, zog mir die Zunge aus der durstigen Kehle und tränkte mich mit Wasser aus dem Schlauch!“

Enkidu: „Es ist kein Wildstier, zu dem wir ziehn! Heiß und wild scheint nur die Sonne, die uns beide führt.“

Gilgamesch: „Wir verbünden uns hier und verrichten ein Werk, das unsern Tod überdauert.“ Er legt sich wieder hin.

Enkidu gräbt einen Brunnen und versprengt Wasser, dann setzt er sich neben seinen Freund.

Gilgamesch fährt hoch: „Ein fürchterlicher Alptraum! Wir standen in einer Schlucht, als die Erde dröhnte und bebte und Feuer in der Finsternis aufloderte: Der Berg stürzte zusammen, wir standen wie Fliegen davor! Dann verlosch das Feuer, und Asche regnete herab.“

Enkidu: „Diesmal hast du von Schumbaba geträumt. Ein guter Traum! Iss ein Stück Brot und lass uns weiterziehn, gleich geht die Sonne auf.“ Er tritt links ab.

Gilgamesch isst und folgt ihm ein wenig später.

 6 

Gedämpftes Brüllen oder Tosen dröhnt aus der Ferne, als Enkidu, von rechts kommend, die Mitte erreicht hat. Enkidu zuckt zurück, wendet sich um und eilt nach rechts, woher ihm Gilgamesch entgegenkommt.

Gilgamesch: „Fürchte dich nicht, Enkidu, nur weil Schumbaba laut brüllt! Eine brenzlige Stelle gefährdet nicht zwei Freunde, die sich stets unterstützen. Lass deine Stimme schallen wie eine Kesselpauke! Fort mit der Lähmung im Arm und der Entzündung im Knie! Wir sind nun dreihundertsechzig Wegstunden gelaufen, haben die Steppe durchquert und ersteigen jetzt auch gemeinsam dieses Gebirge!“ Sie wandern einen verschlungenen Pfad in Richtung Mitte. „Sobald wir hinaufgeklettert sind in den Zedernwald, spalten wir den großen Baum und reißen sein Astwerk ab.“

Ganz hinten schiebt sich langsam, als Gilgamesch und Enkidu sich gerade nach vorn umgewendet haben, von links eine turmartige Bretterwand auf die Bühne. Erneut erdröhnt ein tosendes Geheul, dieses Mal deutlich weniger gedämpft. Die beiden halten inne, bemerken den Turm noch nicht.

Enkidu: „Schau, da ist eine Fußspur! Sie führt zu dem Graben hin.“

Gilgamesch: „Auf diesem Hang wachsen Zedern in üppiger Fülle. Wie frisch es im Schatten ist! Verfilzt und verschlungen wuchert das Buschwerk am Boden, aber der Weg ist gepflegt. Schumbaba, zeig dich, komm her!“ Er tritt links vorn ab.

Enkidu folgt wenig später.

 7 

Erneutes Getöse, nun weitaus lauter, heult auf. Der Turm schiebt sich ein Stückchen in Richtung Mitte vor, wäh­rend Gilgamesch von rechts herantritt. Er zieht sein Schwert, und sobald auch Enkidu hinterhergekommen ist und es ihm nachgetan hat, stürzen sich beide mit Gebrüll dem Lärmen entgegen und zerhacken die Turm­wand, hinter der jetzt, als die Bretter halbkreisförmig nach außen umkippen, Schumbaba sichtbar wird, ein hagerer Greis mit weißem Haarschopf, der beidhändig einen großen Blasebalg betätigt, aus dem Schläuche Druckluft zu mehreren Hörnern führen, deren Geheul nun allmählich erstirbt.

Schumbaba: „Sieh an, der Tölpel und der Fischkopp! Weshalb seid ihr bloß hergekommen? Du Kröte, die keinen Vater kennt, die keine Muttermilch gesaugt hat, warum bringst du jetzt einen Fremden, einen Feind zu mir her? Hätt ich nur Schlangen und Adler euer Fleisch fressen lassen!“

Gilgamesch packt Schumbabas Kopf und klemmt ihn sich zwischen die Beine: „Schweig still, Hornbläser!“

Enkido ergreift seine Hüfte von hinten: „Jetzt ist es Zeit, die Peitsche fest anzufassen! Schlag zu!“

Schumbaba, weinerlich: „Ich gebe dir Bäume, so viele du willst, für dein Schloss! Ich pflege dir den Myrtenbaum! Schone mein Leben, gib mich frei!“

Enkido: „Höre nicht auf ihn! Schlag doch zu! Töte Schumbaba! Zwischen Hörnern und Nacken soll ihn treffen dein Schwert!“

Schumbaba: „Dir wird kein hohes Alter vergönnt sein!“

Mit einem Schwerthieb schlägt Gilgamesch dem nieder­knienden Schumbaba den Kopf ab, der blutig über die Bühne rollt. Gilgamesch hebt ihn hoch: „Der schur­kenhafte Waldwächter ist gefallen, Männer! Folgt Enkidu, schlagt nun die großen Zedern ab!“Er tritt rechts fort.

Enkido schleift den leblosen Leib des Schumbaba und sein Lärmgebläse hinten links von der Bühne. Nacheinander kommen mehrere Männer von links, die jeweils eines der Bretter nach rechts wegtragen.

 

 Dritter Akt 
 1 

Gilgamesch, der von links kommt, kniet sich in der Mitte hin, legt sein verdrecktes Gewand ab, wäscht sich, schüttelt seinen Haarschopf aus, zieht frische Kleider an, greift nach Mantel, Gürtel und Königsmütze; und noch immer tragen die Freiwilligen hinten Bretter von links nach rechts über die Bühne.

Ischtar, nunmehr etwas züchtiger gewandet, schwebt von rechts heran: „Willkommen daheim! Komm, Gilgamesch, du sollst mein Gatte sein, schenk mir deine Pracht, ich will dein Weib sein! Betritt unser Haus unter Zedernduft! Die Vornehmsten sollen vor dir knien und Abgaben bringen!“

Gilgamesch: „Welchen Lohn soll ich zahlen, Hurenschwes­ter, wenn ich dich nehme? Brauchst du Salbe für den Leib oder neue Gewänder? Fehlt es dir am Essen? Da hätt ich freilich Trank und Speise, wie sie dem König zustehn! Aber du, hocke doch auf der Straße! Dich nehme, wer immer dazu Lust hat! Welchen deiner Buhler hast du jemals lieb behalten? Zu jedem redest du wie zum Gärtner, der dir täglich einen Korb Datteln bringt: Wirf die Kleider ab, streck deine Hand aus, komm, lass uns deine Blöße genießen!“ Er geht nach rechts ab.

Anu, ihr beider Vater, tritt von links heran.

Ischtar, zornig: „Mein Vater, Gilgamesch hat mich schwer beleidigt! Lauter Flüche und Beschimpfungen hat er mir entgegengeschleudert.“

Anu: „Du wirst ihn sicher gereizt haben.“

Ischtar: „Die himmlischen Stiere sollen Gilgamesch auf ihre Hörner spießen!“

Anu: „Die brächten wohl sieben Jahre Spreu nach Uruk.“

Ischtar: „Wennschon! Mein Speicher ist wohlgefüllt.“ Sie tritt links ab, Anu rechts.

 2 

Zwei Freiwillige tragen von links Bretter und Steine heran, die sie in der Mitte zu einem Tisch mit einer Bank dahinter zusammenbauen. Gilgamesch, der mit seinem Freund von rechts gekommen ist, setzt sich; Enkido bleibt neben ihm stehn. Geschrei und Getrommel ertönen und schwellen allmählich an. Ein Freiwilliger kommt aus Richtung Hintergrund: „Es ist ein Heer im Anmarsch, Gilgamesch! Rösser, Männer und Zelte sind zu sehn!“

Gilgamesch, den Blick nach vorn: „Ein Freiwilliger hinaus!“ Der Mann schaut ihn an, tritt dann rechts ab. Der andere Freiwillige geht nach hinten.

Ein Gesandter aus Kisch wird von rechts herangeführt und verbeugt sich: „Sei gegrüßt, Gilgamesch, hoher Herr! Der König von Kisch sendet mich, um von Uruk Beteiligung am Brunnenbau zu fordern.“

Gilgamesch, in schneidendem Ton: „Abgelehnt!“

Der Freiwillige stolpert mit Gepolter von rechts her auf die Bühne und bricht vor Gilgamesch zusammen. Seine Stirn und sein Gewand sind blutverschmiert.

Gilgamesch, erschrocken: „Birchurturre, was ist geschehn?“

Birchurturre, ächzend: „Sie haben mich gefragt, ob es Gilgamesch sei, der auf der Mauer steht. Und ich habe gesagt: Nein, sonst würdet ihr euch vor Angst ins Hemd pinkeln!“

Gilgamesch: „Dann geh du jetzt hinaus, Enkidu.“ Er tritt selbst in den Hintergrund.

Der andere Freiwillige schleift Birchurturre links weg, Enkido geht rechts ab.

Anu nähert sich von links: „Gilgamesch, die Forderung aus Kisch kommt nicht ohne Grund!“

Gilgamesch, den Blick nach hinten: „Verschwinde, Gesandter!“ Dieser tritt rechts ab.

Anu: „Vor einigen Jahren hat uns das Wasser von Kisch aus der Dürre gerettet, und diesem Wasser verdankst du dein Königstum. Es wäre besser für Uruk, mit Kisch verbündet zu bleiben. Schließlich ist es die Nachbarstadt.“ Er tritt links ab.

Enkidu kommt unverletzt von rechts: „Ich habe dem König von Kisch gesagt, dass Gilgamesch auf der Stadtmauer steht. Und er hat geantwortet, er wird abziehn, für dieses Mal, weil er hört, dass Gilgamesch von seinem Vater geliebt wird.“

Gilgamesch springt auf: „Er zieht ab, elluri! Nun lasst uns ein Fest feiern! Schlachte den Stier, Enkidu!“

Enkidu tritt links ab.

 3 

Von allen Seiten schleppen Bedienstete Festspeisen, Krüge und Blumengebinde heran.

Enkidu trägt eine Bratenplatte auf, isst selbst aber nur wenig davon, trinkt auch kaum einen Schluck, und legt sich alsbald vorne auf einem Löwenfell schlafen.

Gilgamesch dagegen langt tüchtig zu. Er steigt auf den Tisch und säuft aus dem Krug: „Wer ist der herrlichste unter all den Männern? Wer ist der gewaltigste unter den Helden?“

Bedienstete: „Gilgamesch ist der Allerherrlichste, elluri! Gilgamesch ist der Allgewaltige, elluri!“ Auch sie greifen nach den Krügen.

Ischtar erscheint unter Klagerufen von links: „Weh über Gilgamesch, der mich so beschimpft hat! Weh über den Mörder, Tierschlächter, Waldfrevler, über den Trunkenbold!“

Enkidu richtet sich auf, greift nach der Bratenplatte, reißt ein Stück herunter und wirft es Ischtar hin, worauf diese schreiend links fortläuft. Enkidu: „Da, friss die Keule von deinem Stier! Und wenn ich dich kriege, weid ich dich so aus wie ihn und heize dir ein!“ Er setzt sich wieder vorn hin.

Gilgamesch hockt sich neben Enkidu. Die Bediensteten treten links und rechts ab.

Enkidu: „Gilgamesch! Ich habe geträumt, dass dein Vater am Boden kniet und sagt: Sie haben den Stier getötet, gute Sonne! Den Mord an Schumbaba wird mit dem Leben bezahlen, wer dem Berg die Zedern entrissen hat!“

Gilgamesch bricht in Tränen aus und nimmt ihn in den Arm: „Mein Bruder! Ein kostbarer Traum, doch voller Schrecken! Die Bäume zu fällen, hab ich dir befohlen! Warum bin ich es, den dein Traum freispricht?“ Er steht auf. „Werd ich mich zu einem Toten setzen müssen, an den Trauertisch? Meinen lieben Bruder nicht mehr mit Augen sehn?“ Er tritt schwankend links ab.

 4 

Enkidu rafft sich empor und tritt den Tisch um, auf dem noch Krüge und Festspeisen stehn: „Du stinkende Zeder! Du warst wohl vierundzwanzig Ellen breit und zweiundsiebzig hoch. Vierzig Wegstunden entfernt hab ich schon dein gutes Holz gesehn. Hätt ich deine trügerische Schönheit erkannt, hätt ich ein Beil genommen und ein Floß gebaut!“ Er geht nach vorn, erhebt seine Arme, fällt nieder auf die Knie: „Oh, gute Sonne! Mein kostbares Leben ist in Gefahr! Ich spüre schon, wie meine Kraft schwindet. Oh Sonne, vertreibe nur den Jäger, der mich aus der Steppe vertrieben hat!“

Ischtar nähert sich von links.

Enkidu richtet sich auf: „Hure! Ich sage dir die Zukunft an!“

Ischtar hält erschrocken inne.

Enkidu: „Dir wird bald kein Tempel mehr geweiht sein! Kein Reichtum prunkt mehr unter deinem Dach! Der Durchgang am Kreuzweg sei dein Schlafplatz! Im Schatten der Mauer möge dir Stachelkraut die Füße wundstechen! Auf die Backe soll dich der Trunkenbold schlagen, dein Kleid mit seinem Gespei besudeln, deinen Schoß der Krüppel schwängern! Und laut soll der Löwe brüllen auf deiner Flucht!“

Ischtar tritt schreiend links ab. Enkidu legt sich nieder.

Rimatninßun kommt von rechts heran: „Warum solche Worte über deine Schwester, mein lieber Enkidu? Hat sie dich nicht göttlich speisen lassen, dir feines Bier eingeschenkt, dich vornehm gekleidet? Hat sie dich nicht zu Gilgamesch gebracht, deinem Gesellen und Freund, deinem treuen Bruder? Er lässt dich auf einem Ehrenbett ruhn. Wenn Gilgamesch nach dir bleibt, wird er voll Dreck und Schweiß, mit einen Löwenfell, in die Steppe laufen, um dich zu betrauern, und alle Leute von Uruk weinen um dich!“ Sie tritt rechts ab.

Enkidu vergräbt den Kopf in den Armen und bleibt liegen.

 5 

Gilgamesch tritt von links heran, kniet neben Enkidu nieder, lässt ihn aber schlafen, wischt sich über die Augen, geht links ab.

Enkidu fährt hoch: „Ischtar, verzeih! Dich lieben die Statt­halter und Fürsten! Der Hauptmann löst für dich seinen Gürtel, schenkt dir Edelstein und Gold, legt dir Geschmeide um Hals und Hände, füllt mit seinen Wohl­standsgütern deine Speicher und verlässt für dich die Gattin, die Mutter von sieben Kindern! Ischtar!“

Gilgamesch tritt erneut von links heran.

Enkidu: „Heute Nacht hab ich wieder einen Traum gesehn, Gilgamesch! Im Hause deines Vaters hat man gebratenes Fleisch und Gebäck aufgetragen, kühles Wasser aus dem Schlauch gereicht, als ein Mann mit finsterem Adlergesicht kam, der mich gepackt hat wie mit Raubvogelklauen, wie mit Löwenpranken, mich, meinen ganzen Leib! Er trampelte mich nieder wie ein wilder Stier, und ich rief: Rette mich! Doch du bist nicht gekommen, du warst voller Furcht.“ Er sinkt zusammen: „Meine Krankheit wird mit jeder Stunde schlimmer. Ich sterbe nicht in der Schlacht, ich sterb ohne Ruhm. In einem Spalt voll Staub zerfall ich zu Erde. Meinen Leib, den du frohen Herzens berührt hast, frisst Gewürm, wie ein altes Gewand.“

Gilgamesch: „Enkidu, deine Eltern sind in der Steppe. Die wilden Esel haben dich aufgezogen, das Getier hat dir seine Weiden gezeigt. Bis in den Zedernwald bist du gelangt, den wir in unserem Grimm verwüstet haben! Du warst die Axt an meiner Seite, so verlässlich neben mir! Alles Volk, das Andacht hält nach unserem Tod, soll über dich weinen, die Ältesten von Uruk, die Männer des Gebirges, das Getier in Wald und Steppe, der Euphrat schwelle vor Tränen an!“ Gilgamesch horcht an der Brust Enkidus, der sich seit seinem Verstummen nicht mehr bewegt hat. „Enkidu, was ist das für ein Schlaf, der dich nun gepackt hat? Du bist so düster, schlägst nicht mehr die Augen auf, dein Herz pocht nicht mehr!“ Er verhüllt ihm das Gesicht. Auf Knien: „Hört mich, Männer, ich weine bitter wie die Klageweiber um Enkidu, meinen Freund!“ Er rauft sich die lockigen Haare und wirft seine Kleider ab: „Bildhauer, Bronzegießer, Edelsteinschleifer! Schafft mir ein Bildnis von Enkidu, funkelnd und schimmernd sein Leib und sein Augenlicht! Ich aber lauf in Staub und Schweiß durch die Steppe, in diesem Löwenfell.“

Mehrere Totengräber, schwarz verhüllt, kommen von rechts und heben Enkidu von dem Fell herunter, auf dem er geruht hat.

Gilgamesch wickelt sich in die Tierhaut ein und schleicht mit gesenktem Kopf nach rechts davon.

Die Totengräber salben Enkidu, wickeln ihn in ein weißes Tuch, heben ihn dann auf die Schultern und tragen ihn links fort.

 

 Vierter Akt 
 1 

Mühsam schleppt sich Gilgamesch von links her über die Bühne. Plötzlich, kurz bevor er am rechten Rand an­langt, treten ihm zwei grell bemalte, grimmig drein­bli­cken­de Männer mit Peitschen in seinen Weg.

Peitschenmann: „So weiten Weges zu uns her? Was treibt dich nur in die Ferne?“

Gilgamesch: „Zu meinem Großvater Atramchasis will ich ziehn! Ich möcht ihn befragen zu seinem langen Leben, ob ich zu Staub zerfallen muss wie mein bester Freund, wie Enkidu. Denn seit Enkidu dahin ist, find ich kein Leben mehr, streiche wie ein Räuber durch die Steppe! Ich hab eine Woche lang um ihn geweint, ob er nicht erwache von meinem Rufen, bis das Gewürm schließlich sein Antlitz befiel. Dann erst ließ ich ihn begraben.“

Zweiter Peitschenmann: „Atramchasis lebt weit jenseits dieses Gebirges.“

Gilgamesch: „Lass mich weitergehn!“

Peitschenmann: „Noch nie, Fremder, hat ein Mensch den finsteren Wald von Maschu durchqueren können! Das Leben, das du suchst, wirst du wohl nicht finden, doch zieh nur hin, fürchte dich nicht.“ Die Peitschenmänner gehen links davon, Gilgamesch tritt rechts ab.

 2 

Siduri, die Wirtin, kommt von rechts und baut einen leichten Tisch auf, stellt beidseitig Hocker daneben; sie holt auch Brote und Weinkrüge herbei. Sie setzt sich, nach vorn gewandt, auf den Tisch und schreckt zurück, als Gilgamesch von links herantritt, springt um den Tisch herum, so dass er zwischen ihnen steht.

Gilgamesch: „Was hast du gesehn, Wirtin, dass du deine Tür verriegelst? Ich zerbreche dein Schloss, dringe trotzdem ein! Ich bin Gilgamesch, ich habe den Waldwächter Schumbaba erschlagen, in den Bergpässen von Maschu Löwen getötet!“

Siduri: „Warum sind deine Wangen dann so abgezehrt, deine Züge so verlebt, ist dein Rücken so gebeugt, dein Gemüt verhärmt?“

Gilgamesch: „Mein Freund Enkidu ist von mir gegangen, den ich über jedes Maß geliebt habe, der mit mir durch alle Beschwernisse zog.“

Siduri reicht ihm das Brot: „Fülle dir den Bauch, Gilgamesch, erfreu dich deines Lebens! Feiere täglich ein Fest, spiele, tanze bei Tag und bei Nacht! Bade dich, wasche dein Hemd! Lass deine Frau sich auf deinen Schoß freuen, schau das Kind an deiner Hand!“

Gilgamesch: „Ich suche meinem Großvater Atramchasis. Muss ich hier das Meer überqueren oder weiter durch die Steppe ziehn?“

Siduri: „Durch die Steppe ist es unermesslich weit, aber das Meer lässt sich nicht überqueren.“ Sie reicht ihm den Krug: „Ich kenne niemanden, dem das gelingt, außer der Sonne. Höchstens noch Urschanabi, dem Bootsmann.“ Sie winkt nach rechts in die Ferne.

Gilgamesch: „Der soll mich mitnehmen.“

Siduri: „Man kann aber nicht nach Bahrain hinübersegeln! In der Mitte des Meeres ist es windstill, und man muss rudern. Aber lass es dir von ihm selbst erklären, da kommt er.“

Urschanabi „rudert“, rückwärts auf einem Brett hockend, von rechts herbei. Dem Brett sind drei Rollhölzer untergelegt, die er vor sich beidhändig vom Boden hebt, über seinem Kopf hinwegführt und hinter sich erneut unterlegt, so dass er sich mit den Händen voranstoßen kann, von einem Rollholz zum nächsten, bis weit auf die linke Seite. Er fragt: „Wer ist bei dir zu Gast, Siduri?“

Gilgamesch: „Ich bin Gilgamesch aus Uruk, und ich will zu meinem Großvater Atramchasis gelangen, auf die andere Seite des Meeres, zur Insel Bahrain!“

Urschanabi: „Geh und schlag Holz im Wald, bau dir ein Boot.“ Er bleibt auf seinem Ruderbrett sitzen und bekommt von Siduri ein Stück Brot gereicht.

Gilgamesch tritt links ab.

Siduri räumt Speisen und Tisch nach rechts fort und geht.

 3 

Gilgamesch erscheint links und setzt sich auf ein Brett, dem er Rollhölzer untergelegt hat. Mit Urschanabi zusammen „rudert“ er zur andern Seite: „Wie soll ich stumm bleiben und schweigen? Mein Freund, den ich so geliebt hab, ist zu Erde geworden! Mir graute vor seinem Aussehn, ich bin vor dem Tod erschrocken, rausgelaufen in die Steppe. Werd ich mich niederbetten wie er und nicht mehr aufstehn für alle Zeit?“

Atramchasis tritt rechts auf die Bühne; er bleibt am Rand stehn, schaut in die Ferne.

Gilgamesch, mit Urschanabi vor Atramchasis angelangt, steigt vom Rollbrett und umarmt seinen Ahnherren: „Mein Großvater! Ich bin durch die Steppe geirrt, müh­sam durchs Bergland geschritten, übers Meer gefahrn und konnte mich nicht an süßem Schlaf erfreun. Noch bevor ich das Haus der Wirtin Siduri erreicht hatte, war meine Kleidung abgeschabt. Atramchasis, verschließe mir endlich den Mund zum Wehklagen!“

Atramchasis: „Wo ist nur deine herrliche Gestalt geblieben? Sie haben dir den Thron hingestellt, und nun bist du angetan wie der Tölpel, weil du keinen Rat annimmst. Bemüh dich und gewähr anderen deine Hilfe, Gilgamesch! Du bist schlaflos geworden, rufst immer wieder die fernen Tage zurück, und was hast du davon? Niemand möchte den grimmigen Tod sehn, der uns die geliebten Menschen wegnimmt, keiner den Tag wissen, wann er kommt. Doch lass mich dir erzählen, warum ich hier auf dieser Insel wohne, fern der Mündung der Ströme!“

Urschanabi geht rechts von der Bühne.

 4 

Atramchasis lässt sich auf Urschanabis Brett neben Gilgamesch nieder: „Vor langer Zeit war ich König von Schuruppak am Euphrat, sechs Wegstunden von Uruk ent­fernt, als ich eines Nacht träumte, dass der Brunnenbauer an meine Tür trommelt und ruft: Atramchasis, rette dein Leben! Lass den Reichtum fahren! Verschenk dein Haus, erbau schnell ein Schiff, pack hinein, was lebt und was man zum Leben braucht, und besteige dein Schiff, sobald es im Übermaß regnet!“ Er erhebt sich. „Als ich morgens aufgestanden bin, ließ ich den Zimmermann Holz bringen, den Bootsbauer Klammern, meine Kinder Erdpech, meine Frau Öl und Backmehl, den Schlachter Schaf- und Rindfleisch, den Bauern Saatgut; die Köchin brachte Suppen für die Handwerker, ich selber holte Bier und Wein aus dem Keller; und als nach einer Woche das Boot eben fertig war, zog schwarzes Gewölk auf, Blitze entfackelten die Landschaft mit grausigem Glanz, am Abend fiel ein Regen von Weizenkörnern; da ließ ich meine Angehörigen das Boot besteigen, übergab dem Verpicher mein Schloss, und während eine Woche lang der Südsturm blies, stieg eine Flut an, die das Boot anhob, Steppe und Stadt überschwemmte; wochenlang sind wir im Unwetter umhergetrieben, bis wir plötzlich auf Grund liefen, und ein Rabe, den ich aufsteigen lassen hatte, nicht wieder umkehrte wie zuvor, sondern fortflog. Da riss die Wolkendecke wieder auf, Sonnenschein fiel auf mein Gesicht, allmählich verliefen sich die Wasser; und seither wohn ich hier auf Bahrain, hier hab ich mein Saatgut ausgebracht. Schuruppak jedoch ist ertrunken.“ Er wendet sich um: „Urschanabi, bring Gilgamesch nach Uruk zurück! Wasch ihn und kleide ihn, wie es einem König ansteht! Denn die Schönheit seiner Glieder ist von Fellen entstellt. Geleite ihn sicher in seine Stadt, und bring ihm das belebende Kräutlein Immerjung mit!“

Gilgamesch springt überrascht auf.

Atramchasis umarmt ihn und tritt rechts ab.

Urschanabi, ein Bündel Hanfkraut unter dem Arm, das er Gilgamesch übergibt, nähert sich von rechts, setzt sich auf sein Rollbrett und „rudert“ los.

Gilgamesch legt das Bündel auf seinen Schoß und folgt ihm. Beide verlassen die Bühne auf der linken Seite.

 5 

Siduri, die Wirtin, kommt von links und baut ihren leichten Tisch auf, stellt Hocker daneben, holt Brote und Wein­krüge herbei.

Der Gesandte aus Kisch tritt von der gleichen Seite hinzu, setzt sich auf den linken Hocker, wendet sich ab.

Gilgamesch und Urschanabi kommen von rechts angerudert und steigen von ihren Brettern.

Ischtar, verschleiert und kaum erkennbar, tänzelt von links heran und setzt sich bei Gilgamesch auf den Schoß, kaum dass der sich auf dem rechten Hocker niedergelassen hat, streckt ihre nackten schlanken Beine aus und ruft: „Lass gut sein, Urschanabi, ich bringe Gilgamesch in die Stadt!“

Urschanabi „rudert“ auf seinem Brett rechts davon.

Ischtar neckt Gilgamesch mit dem Hanfkraut. Beide essen Blätter davon, lachen, schmusen, schnuppern an den Blüten.

Gilgamesch, glucksend: „Dieses Kraut lass ich auf den Fel­dern von Uruk anbauen, und wieder jung werden die Men­schen als Greise!“ Das Büschel fällt auf den Boden.

Ischtar hebt ihre Arme, rutscht Gilgamesch vom Schoß herunter, wobei sie das Kleid abstreift und laut auflacht; sie greift nach dem Hanfkraut und läuft nackt links von der Bühne.

Gilgamesch, jammernd: „Ach, wofür mühn sich meine Arme? Nun hab ich auch noch das Kräutlein Immerjung verloren!“

Der Gesandte: „Ja, das Fräulein hat sich gehäutet wie eine Schlange.“

Gilgamesch: „Dich kenn ich! Du hast mich einmal als Ge­sand­ter aus Kisch aufgesucht.“

Gesandter: „Diesmal komm ich aus Ninive. Als du fortgelaufen bist in die Steppe, Gilgamesch, haben sich Heerscharen vom Libanon, aus Israel, Kisch und Ninive vereinigt. Deine Männer haben nicht viel Gegenwehr geleistet!“

Gilgamesch starrt ihn an.

Gesandter: „Die große Hurenstadt ist gefallen!“ Er tritt rechts von der Bühne.

Gilgamesch sackt, den Arm über den Hocker gehängt, am Boden zusammen.

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Die große Huren­stadt ist gefallen